Das Schaugericht im Speisesaal des Oberen Schlosses zu Greiz
„Zu Tisch! – Genießen in Schlössern und Gärten“ heißt der Beitrag vieler Schlösser Land auf Land ab zum Europäischen Kulturerbejahr SHARING HERITAGE 2018, bis zum 5. Juni läuft noch die Blogparade #SchlossGenuss, zu der dieser Beitrag gehört. In Schlössern und Gärten zu genießen, heißt auch immer wieder mit den fürstlichen Bewohnerinnen und Bewohnern zu genießen – heute an der festlichen Tafel von Fürst Heinrich XI. von Reuß älterer Linie.
»Die Schauessen werden solche Gerichte genennet/ welche von Menschen Händen gemachet/ lieblich anzuschauen und auch können genossen werden: Sie belustigen
erstlich die Augen/ nachgehends den Mund/ und werden meinsten Theil aufgesetzet/ wann man sich mit andren Speisen gesättiget hat […] Solche Schauessen werden von unterschiedlichen Materien gemachet/ unter welchen die gebräuchlichsten sind die Bilder von Zucker […] Die Bilder haben entweder eine Deutung/ welche auf die Ursache deß Bancketes/ oder den Ruhm der hochansehnlichen eingeladenen Gäste abzielet […].«
So schrieb der Nürnberger Dichter und Begründer des Pegnesischen Blumenordens (einer bis heute bestehenden deutschen Sprachgesellschaft) Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658) in seinem 1657 erschienenen Buch: »Neues Trenchir-Büchlein: Wie man nach rechter Art, und ietzigen Gebrauch nach, allerhand Speisen ordentlich auff die Taffel setzen, zierlich zerschneiden und vorlegen, auch artlich wiederumb abheben soll /. Alles mit schönen Kupfferstücken beygebracht, und mit Fleiß auffgesetzt Durch Andreas Kletten.«
Das etwas andere „weiße Gold“
Ein Schauessen oder Schaugericht aus Zucker, wie es Harsdörffer beschreibt, ist seit 2013 im Speisesaal des Oberen Schlosses in Greiz zu bewundern. Ein solches Schaugericht meint keine Speisenfolge auf Tellern oder in Schüsseln, sondern bezeichnet eine Dessertdekoration beziehungsweise einen kunstvoll arrangierten Tafelaufsatz. Beides kann aus ganz verschiedenen Materialien gestaltet sein (Silber, Porzellan, Backwerk, Karamell oder eben Zucker). Dabei war Zucker im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs ein preiswertes oder gar billiges Lebensmittel, das Fürsten nur dann zur Herstellung eines Tafelaufsatzes oder Schaugerichtes verwenden ließen, wenn sie kein Geld für Tafelschmuck aus Silber oder Porzellan hatten.
Rohrzucker wurde damals hauptsächlich von den Westindischen Inseln vor Mittelamerika nach Europa eingeführt. Bevor um 1800 die Gewinnung von Zucker aus heimischen Runkelrüben zu einer erheblichen Verbilligung des Zuckers und dessen industrieller Herstellung führte, war der importierte Zucker (aus Zuckerrohr gewonnen) ein kostspieliges Luxusgut für die oberste Gesellschaftsspitze und wurde auch als »weißes Gold« bezeichnet.
Verfeinerung und Eleganz
»Die Schau-Essen sind in den alten Zeiten mehr mode gewesen als ietzund. […] Heutiges Tages sind sie nicht so häufig, werden aber davor mit desto größerer Invention, und auf sinnreichere Weise invetirt […].« So beschreibt Julius Bernhard von Rohr (1688-1742) in seinem 1733 erschienenen Buch »Einleitung zur Ceremoniell-Wisschenschaft der grossen Herren« die Verfeinerung und zunehmende Eleganz auch in bezug auf die üppigen Tafeldekorationen.
Wer es sich also leisten konnte aus dem teuren Süßstoff Zucker ein Schaugericht herstellen zu lassen, entfaltete an seiner Tafel einen erheblichen Luxus. Einerseits konnten dann die geschätzten Gäste den süßen Tafelschmuck am Ende eines glanzvollen Festmahles als besonderen Gaumenkitzel essen, andererseits war solch ein Schaugericht aus »Tragantzucker« gut verpackt lange haltbar und konnte, ergänzt um fehlende Teile, mehrfach wiederverwendet werden.
Zucker oder Porzellan?
An den großen und kleinen deutschen Fürstenhöfen verfertigten die Hofkonditoren zumeist mit Hilfe von Holzmodeln diese süßen Kunstwerke. Die dafür verwendete Zuckermasse wird bis heute als »Tragant« oder »Tragantzucker« bezeichnet. Tragant ist eine eßbare getrocknete Gummiart, die aus Stämmen und Zweigen der auch in Europa weitverbreiteten Tragantpflanzen gewonnen wird. Geschmolzen und vermischt mit Zucker ergibt sich daraus eine formbare weißliche Masse, die beliebig eingefärbt werden kann. Tragantzuckermassen ähneln zudem in Werkstoffeigenschaft und Aussehen dem Porzellan.
Das 18. Jahrhundert war ein Zeitalter, das, wo immer sich die Möglichkeit bot, mit Illusionen und (optischen) Täuschungen spielte und viel weiter gefaßte Begriffe von Authentizität und Materialgerechtigkeit hatte, als wir heute im 21. Jahrhundert. Der erzeugte Eindruck zählte, geweckte Emotionen und Sentiments waren zumeist wichtiger als die »Echtheit« eines Materials. Nicht zuletzt deshalb dürfte der aufwendige Tafelschmuck aus Tragantzucker sich besonderer Wertschätzung erfreut haben. Bot sich doch damit an der fürstlichen Tafel die Gelegenheit zu einem raffinierten Spiel mit einem »weißen Gold«, das ebenso zerbrechlich, exotisch und elegant wie Porzellan war – aber es war zudem noch eßbar! So war ein Tragantzucker-Schaugericht Augenlust und Gaumenfreude zugleich und übertraf darin die viel edleren Matrialien wie Porzellan oder Silber. Zudem bot sich dem Auftraggeber oder Besitzer der Dessertdekorationen aus Tragantzucker die Gelegenheit mit dem Können und der Kunstfertigkeit seiner Patissiers und Konditoren zu renommieren und auch dafür die neidvolle Bewunderung der Gäste an der Tafel zu erlangen.
Rokokoherrlichkeit in Greiz
In Greiz befinden sich Modeln für ein Tragantzucker-Schaugericht aus der Zeit des Fürsten Heinrich XI. (1722-1800). Sie stammenden aus dem Besitz der fürstlichen Hofkonditorei Müller und wurden benutzt, um 2013 den farbenfrohen Tafelschmuck für den Speisesaal im Oberen Schloß anzufertigen.
Graf Heinrich XI. Reuß zu Obergreiz verwaltete von dort aus zunächst seine Herrschaft Obergreiz, die er 1768 durch den Erbfall mit der Herrschaft Untergreiz vereinigen konnte. 1778 wurde er in den Reichsfürstenstand erhoben und regierte nun das Fürstentum Reuß älterer Linie (Reuß-Greiz). Auf Heinrich XI. geht auch die Umgestaltung des im Kern mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Oberen Schlosses zurück, einer auf einem langgestreckten Bergrücken liegenden Burganlage. Die herrschaftlichen Wohn- und Repräsentationsräume ließ Heinrich XI. im Stil des Rokokos dekorieren; die Künstler und Handwerker des kleinen Hofes schufen ein glanzvolles Appartement von hoher Eleganz.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die fürstliche Hofhaltung dann in das Untere Schloß am Rand der Greizer Altstadt verlegt. Das Obere Schloß wurde fortan für die Verwaltung des Fürstentums genutzt. Vor zehn Jahren eröffnete in der ausgedehnten Anlage das Museum, dessen Kernbereich die Repräsentationsräume aus der Zeit Fürst Heinrichs XI. und die Schloßkapelle mit ihren exquisiten Stuckaturen bilden.
Zuckersüßer Lustgarten
Doch zurück zu dem fürstlichen Schaugericht aus Tragantzucker: Dargestellt ist ein mehrere Meter langer und etwa einen Meter breiter »Lustgarten«, eine barocke Gartenanlage im französischen Geschmack mit üppigen Wasserspielen – hoch aufschießenden Fontainen, ausgedehnten »Treillagen« (begrünten schattenspendenden Laubengängen aus zierlichem Lattenwerk) – sie umgeben die breiten Wege und geometrisch angelegten und kunstvoll mit rotem und weißem »Kies« ausgestalteten Broderieparterres. Kleine Hecken aus Buchsbaum fassen diese Beete ein, verschieden zugeschnittene Bäume in Pflanzkübeln vervollständigen die Ausstattung. Acht reich verzierte Tore, vier Pavillons in den Ecken und ein kunstvoll gestaltetes Gitter, das den gesamten Garten umgibt, bilden den Rahmen des Schaugerichtes. Bevölkert wird der Park von mehreren Hofkavalieren zu Fuß und zu Pferd sowie zwei Kutschen, die mit mehreren Pferden bespannt sind. Die für das Schaugericht verwendeten Farben sind Grün, Weiß, Gold und Rot.
Im heiter-verspielten Zeitalter des Rokokos wurde es ab etwa 1730 Mode, oftmals Gärten detailgetreu für den Dessertschmuck der Tafel nachzuahmen. So vermeldete das »Frauenzimmer Lexicon«, das Gottlieb Siegmund Corvinus (1677-1747) unter dem Pseudonym Amaranthes 1773 herausgab: »Die leichtesten Vorstellungen bey grossen Desserts sind die Lustgärten mit Spaziergängen, Gebäuden, Springbrunnen, Parterren und Statuen, zu welchen letztern die Porcellain-Fabriken in Meissen, Berlin, Wien etc. die schönsten und zierlichsten Figuren von allen nur erdenklichen Arten und Stellungen zubereiten […].«
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts begann eine langsame Änderung der Tafelkultur, nach und nach lösten »Surtouts« (Tafelaufsätze) aus Porzellan die süßen Kunstwerke aus Tragantzucker ab, ohne sie jedoch vollständig zu verdrängen. Interessant ist hier zudem die Tatsache, daß es in dieser Zeit des Übergangs vielfältige Verbindungen zwischen Hofpatissiers, Hofkonditoren und den sich etablierenden Porzellanmanufakturen gab. Porzellanmodelleure in Meißen schulten sich auch am Können der Patissiers, und die fürstlichen Konditoreien waren oftmals noch lange Zeit auch für die Aufbewahrung und den Einsatz des Tafelschmucks aus Porzellan zuständig.
»In gutta mundi« – die (barocke) Welt im Tropfen… Besucherinnen und Besucher erleben im Greizer Oberen Schloß mit diesem detailreichen Schaugericht ein selten gezeigtes Stück fürstlicher Repräsentations- und Tafelkultur des sinnenfrohen 18. Jahrhunderts und gewinnen einen interessanten Einblick in die Lebenswelt eines kleinen thüringischen Hofes des »ancien régime«, vor den dramatischen Umwälzungen der Zeit nach 1789.
Die Literaturzitate stammen aus: Katharina Christiane Herzog: Mythologische Kleinplastik in Meißener Porzellan 1710-1775“, Zürich 2012.
Text und Fotos © Thomas Weiberg
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